Impuls zum 9. November 2025
Von Klaus Hagedorn (Oldenburg), Kommission Aktive Gewaltfreiheit und pax christi Münster
Bausteine für ein REQUIEM wider das Vergessen
Vorneweg
Die Ökumenische FriedensDekade 2025 beginnt mit Sonntag, dem 9. November 2025. An diesem Tag vor 87 Jahren geschah das, was als „Reichspogromnacht“ in die deutsche Geschichte eingegangen ist. In einem barbarischen Terrorakt setzten SA- und NSDAP-Mitglieder deutschlandweit Synagogen in Brand, zerstörten mehr als 7.000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler und verwüsteten und plünderten Wohnungen von Juden und Jüdinnen. Ein solcher Tag mit solchem Geschehen darf nicht dem Vergessen anheimgestellt werden. Erinnerung ist wesentlich. Ein Sprichwort sagt: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, den kann es die Zukunft kosten.“
Welche Orientierung ist zu erinnern, wenn Haltungen – aktuell - um sich greifen, die die Würde von Menschen und ihr Recht auf Leben und Unversehrtheit aktiv antasten?
„Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“ – Levitikus 19,18
Im dritten Buch der Bibel, im Buch Levitikus, steht ein wesentlicher Satz: „Liebe deinen Nächsten - wie dich selbst“. Wir kennen diesen Satz auch aus anderen Bibelstellen, haben ihn alle irgendwann gehört. Er ist eingeflossen in unsere abendländische Tradition. Martin Buber und Franz Rosenzweig, zwei wichtige Bibel-Übersetzer, übersetzen wohl richtiger: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“. Damit wird deutlicher: Es geht nicht darum, die Liebe zu sich selbst zum Maßstab der Nächstenliebe zu machen. Die Israeliten sollten daran erinnert werden, dass der Nächste – egal ob Freund oder Feind – wesensgleich mit ihnen selber ist. Der Grund der Liebe und der Grund für die Achtung jedes anderen Menschen ist demnach nichts anderes als die Gleichheit aller Menschen.
Man kann, man darf also - biblisch besehen - einen Menschen, einen Feind, nicht ohne weiteres töten oder vernichten. Denn: „Er ist wie du“ – oder: „Das bist du selbst!“ Man müsste also zunächst erklären, wenn man einen Menschen töten will, dass er nicht wie man selber ist.
Als die Nazis Juden, Behinderte und Homosexuelle, Sinti und Roma vernichteten, haben sie das nicht einfach nur getan. Sie haben sich und andere darauf vorbereitet, indem sie diesen Menschengruppen abwertende Bezeichnungen gegeben haben, mit denen sie aussagten: „Sie sind nicht wie wir!“ Sie haben Jüdinnen und Juden „Parasiten und Schmeißfliegen“ genannt, die Kranken und Beeinträchtigten „Minusvarianten“, Lesben und Schwule „Schädlinge am Volkskörper“.
Es gibt die Grundeinsicht der Bibel, eine Grundüberzeugung vom ersten bis zum letzten Kapitel – und die heißt: Der Mensch, der neben dir lebt, ist wie du. Wenn man ihn mit dem Messer sticht, blutet er wie du. Sein Blut ist rot wie das deinige. Er weint Tränen wie du, wenn er Schmerzen hat. Er ist der Freude und des Glücks fähig - wie du selber. Er muss sterben - genau wie du. Darum behandle ihn, wie du selber behandelt werden willst; denn er ist dir gleich. Die „Goldene Regel“ – auch in der Bibel!
Der Dichter Erich Fried wurde einmal gefragt, wie er einen Neonazi beschreiben würde. Er, der Jude, antwortete: „Ein Neonazi ist ein Mensch, der unter Zahnschmerzen leiden kann wie ich selber; der Liebeskummer haben kann wie ich selber und der weinen kann wie ich selber.“ Gewiss hat Erich Fried noch einiges andere gesagt, aber zunächst hat er die Gleichheit eines solchen Menschen mit sich selber festgestellt. Diese Erkenntnis ist die eigentliche Tötungshemmung. Darum die vielfältige Erinnerung der Bibel: Dein Nächster ist wie du. Darum liebe ihn, darum erkenne ihm die Lebensrechte nicht ab, darum achte seine Andersheit. Versuche nicht, seine Eigenheit an deiner zu messen. Lass seine Fremdheit unberührt. Behandle ihn, wie du selber behandelt werden willst.
(nach: Fulbert Steffensky, Schöne Aussichten, Stuttgart 2006, 31-33)
Gegen Vergessen
Ich will mich erinnern,
dass ich nicht vergessen will;
denn ich will meine Geschichte kennen.
Ich will mich erinnern,
dass ich oft doch vergessen will;
denn ich will nicht zu viel leiden
Ich will mich erinnern,
dass ich nicht vergessen will;
denn ich will „ganz sein“.
Denn ich kann nicht denken,
ohne mich zu erinnern;
denn ich kann mich nicht orientieren,
ohne mich zu erinnern
Denn ich kann nichts wollen,
ohne mich zu erinnern;
denn ich kann nicht lieben,
denn ich kann nicht hoffen,
denn ich kann mich nicht versöhnen,
ohne mich zu erinnern
Ich will mich erinnern an alles,
was man vergisst;
denn ich kann nicht retten,
ohne mich zu erinnern,
mich selbst nicht und jene nicht,
die nach mir kommen
Ich will mich erinnern an die Vergangenheit
und will die Zukunft in den Blick nehmen
und will nüchtern und wachsam,
sensibel und einfühlsam,
im Heute leben.
Gedenken und Bedenken
O Gott des Lebens, unsichtbar,
wissend, was in uns ist,
verstehend alle Worte, die gesagt sind
auch verstehend, was niemals gesagt werden kann,
höre dieses Gebet:
Wir gedenken all der ermordeten Menschen,
der Getöteten in all den Kriegen, den Unzählbaren weltweit.
Wir gedenken all der Gefolterten und aller Vermissten,
all der Opfer von endlosen Katastrophen
aller Verstoßenen auf dieser Erde.
Wir gedenken unserer Toten, Namen für Namen,
aber auch all derer, mit denen wir leben - hier und jetzt,
die uns anvertraut sind,
die zu uns gekommen sind, aus Nah und aus Fern.
Bei allem, was geschehen ist und geschieht
an Schreckenserregendem und Menschenunwürdigem –
unser Herz und unser Verstand seien geöffnet für das,
was auch geschieht:
für das Recht, das die Menschenwürde ins Zentrum setzt,
für Gerechtigkeit, die als Leitstern aufscheint und prägt,
für Menschen, die sich engagieren mit langem Atem,
für Initiativen, die kleinste Chancen nutzen, Frieden zu stiften.
Du hast uns in dieses Leben gestellt.
Wir wollen als Menschen zusammenstehen – ohne Gewalt und Krieg,
über alle Grenzen hinweg in Geschwisterschaft - ohne Feindbild im Herzen.
Wir suchen nach Wegen, einander Hilfe und Stütze zu sein.
Wir wollen nicht leben ohne Halt - und fern von dir.
Wir brauchen Ermutigung,
aufzustehen für ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit
und der Stimme zu vertrauen, die in uns spricht von Frieden und Versöhnung
und vom Wort, dass nichts unmöglich ist bei Gott.
Wir brauchen Mut, darauf zu setzen, dass Frieden nicht undenkbar ist.
Wir brauchen Mut, inmitten aller Kriegsgewalt an der Vision des Friedens festzuhalten.
Wenn wir an Jesus von Nazareth denken, den Friedensboten schlechthin –
dann möchten wir glauben, dass er kein Hirngespinst und nicht erlogen ist,
sondern dass er der Friede ist, den wir erwarten.
Wir möchten vertrauen, dass er den Weg gegangen ist, der zum Frieden führt,
dass er sich selbst ausgeteilt hat als Brot für jeden Menschen.
O Gott des Lebens, lass dich erfahren als mit uns auf dem Weg.
Wir brauchen gestärktes Vertrauen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat,
sondern die Liebe.
„Bei dir ist die Quelle des Lebens.
in deinem Licht sehen wir das Licht.“ (Psalm 36,10)
Ein Segenswort
Geht in der Kraft, die euch gegeben ist,
geht einfach, bleibt bewegt, geht mit Zuversicht,
in vielem, trotz vielem, vielem zum Trotz,
und haltet Ausschau nach Liebe, Frieden und Gerechtigkeit
und Gottes Geistkraft geleite Euch - immer! Amen.
Hinweis zur Ökumenischen FriedensDekade
Seit 1980, jedes Jahr im November, gibt es einen zehntägigen Aktionszeitraum, in den Kirchengemeinden, Gruppen und Initiativen Friedensgebete und Veranstaltungen legen können. In diesem Jahr sind dies die Tage vom 9.11. bis zum 19.11.2025. Eine bundesweite Vorbereitungsgruppe entwickelt jeweils ein Motto. Für 2025 lautet es: „Komm den Frieden wecken“. Und es wird jeweils ein 50-seitiges Arbeitsheft erstellt mit vielen guten Anregungen für konkrete Friedensarbeit und Informationen zu aktuellen Entwicklungen z.B. bzgl. Aufrüstung und Abschreckung.
Von Anfang an war der Schmied, der ein Schwert umschmiedet, das Kennzeichen der FriedensDekade. Dieses Logo „Schwerter zu Pflugscharen“ erinnert an die biblische Verheißung im Buch Micha 4,3: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ Das Logo geht zurück auf eine Bronzeskulptur des Russen Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch, die seit 1959 vor dem Hauptsitz der UNO in New York steht.
Weitere Informationen zur Ökumenischen FriedensDekade sind zu finden auf: www.friedensdekade.de